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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11114. Wien, Sonntag, den 4. August 1895

[1]

Neue Bücher über Musik.

(I. Wagneriana.)


0003Ed. H. Vor Allem unsern wärmsten Glückwunsch an
0004Herrn Nikolaus Oesterlein! Er ist es glücklich losgeworden,
0005das fressende Kapital, sein „Richard-Wagner-Museum“. An
0006dreißig Jahre lang hat der unermüdliche Enthusiast dafür
0007gearbeitet, daran gesammelt, bis er in seiner bescheidenen
0008Wohnung immer weiter zurückgedrängt, kaum mehr eine
0009Schlafstelle fand zwischen den unermeßlichen Bergen von
0010Zeitungen, welche irgend ein Witzwort Wagner’s oder „eine
0011Ansprache an das Orchester“ für die Ewigkeit aufbewahren.
0012Nachdem er diesem kostspieligen Mittelding zwischen Sport
0013und Götzendienst sein ganzes Vermögen geopfert hatte, mußte
0014Herr Oesterlein wünschen, daß nun andere Hände es über-
0015nehmen und weiterführen möchten. Jedermann dachte zu-
0016nächst an Bayreuth, die prädestinirte Stätte für ein Wagner-
0017Museum. Aber dort liebt man es nicht, Geld auszugeben,
0018sondern nur einzunehmen. Es erschien eine Bro-
0019schüre: „Aufruf an die Wagnerianer“, welche mit
0020angreifender Beredtsamkeit Beiträge für den Ankauf
0021des Oesterlein’schen Museums forderte. Sie ruft „Zu
0022neuen Thaten!
“ und tummelt die alten Phrasen.
0023Es handle sich um die gleichberechtigte Einfügung der
0024Wagner’schen Sache in das altüberkommene Gefüge
0025unseres Volkslebens“, „um die organische Verknüpfung
0026der Wagner’schen Kunst als einer nothwendigen wich-
0027tigen Lebensäußerung des deutschen Volkes mit seinen
0028anderen wichtigen Lebensäußerungen“. „Es gilt heranzutreten
0029an die ganze Fülle und Macht des Bestehenden, an die ver-
0030schiedensten Bildungsanstalten und Behörden, zuletzt an
0031die obersten Gewalten des Staates selbst... Dann feiert
0032Alldeutschland, nicht blos ein äußerlich ausgebreitetes, sondern
0033ein inneres Alldeutschland, in Bayreuth seine Eleusinischen
0034Feste!“ Dieser schmetternde Unsinn scheint trotzdem keine
0035namhaften Beiträge erzielt zu haben. Jetzt ist der Noth-
0036schrei der Broschüre antiquirt, denn ein reicher Bürger in 
0037Thüringen hat bekanntlich die nöthige Summe unter der
0038Bedingung gespendet, daß das Wagner-Museum in Eisenach 
0039aufgestellt und verwaltet werde. Dahin ist es denn auch
0040glücklich abgegangen mit einem oder zwei Sternchen für die
0041neueste Bädeker-Auflage. Als letzte eigene Arbeit hat Herr
0042Oesterlein noch den vierten Band seines Museum-Kata-
0043logs (1895) dazu geliefert. „Es ist jetzt Ordnung in den
0044Wirrwarr einer vergangenen großen Kunstbewegung ge-
0045bracht worden,“ sagt er im Vorwort. Ordnung? Ich
0046glaube, an Wirrwarr fehlt es noch immer nicht. Wenn
0047Oesterlein’s „Nachfolger in der Verwaltung“ die Samm-
0048lung in derselben systemlosen Vollständigkeit fortsetzen, so
0049wird Eisenach sammt der Wartburg bald nicht Platz genug
0050haben für den Coloß. Herr Oesterlein hält für unentbehrlich
0051Alles, was mit Wagner’s Person und Kunst zusammen-
0052hängt. Der Begriff „Zusammenhang“ ist aber weit, ja
0053dehnbar bis zum Lächerlichen. Bei Oesterlein streckt jedes
0054Schlagwort tausend Polypenarme aus und packt das Aller-
0055entfernteste. Zum Beispiel: Wagner dirigirt in Riga zu
0056seinem Benefice die Oper „Norma“; ein interessantes biogra-
0057phisches Moment. Der Theaterzettel mit Wagner’s lobpreisen-
0058der Empfehlung der „Norma“ gehört unstreitig in das Museum.
0059Aber Florimo’s dickleibige „Memorie e lettere di Bellini“
0060gehören darum noch nicht hinein, ebensowenig die italieni-
0061schen Kritiken über Goldmark’s „Königin von Saba“, in
0062welchen „Wagner erwähnt wird“. Weil Wagner in Venedig 
0063gestorben ist, stellt Oesterlein drei italienische Werke über
0064Venedig, zu 500, 594 und 558 Seiten in sein Museum!
0065Die „Gedichte von Murad Effendi“ und das „Taschenbuch
0066zum geselligen Vergnügen“ enthalten Verse an die Wart-
0067burg — mußten sie deßhalb für das Wagner-Museum an-
0068geschafft werden? Wir finden ferner in dem neuen Kataloge
0069Tausend Jahre thüringischer Geschichte“, „Akustische Briefe 
0070von R. Pohl“, „Musikalische Winke und Lebensbilder von
0071Elise Polko“, A. Grün’s „Nibelungen im Frack“, Kopisch’s
0072Gedichte, Wolff’s Gedichte, ein Schauspiel „Die Mauren
0073in Spanien“, Luther’s Leben von G. Pfizer, Mythologie der
0074alten Indier, neun Werke über die griechische Tragödie und
0075vielen ähnlichen Ballast. Was wollen endlich all die
0076Concertprogramme über Aufführungen Liszt’scher Com-
0077positionen in dem Wagner-Museum? Die lustig fort-
0078strömende Vielschreiberei über Wagner — ein Dutzend 
0079Broschüren hat bereits die neueste Pariser „Tannhäuser“-
0080Aufführung erzeugt — wird der Eisenacher Museums-Ver-
0081waltung heute schon genug nachzuschaffen geben, auch wenn
0082sie strenger als Herr Oesterlein in der Auswahl verfährt.


0083Zu den willkommensten Novitäten gehören die „Fünf-
0084zehn Briefe von Richard Wagner
, nebst Er-
0085innerungen und Erläuterungen von Eliza Wille“ (Berlin,
0086Gebrüder Paetel, 1894). Das Landhaus des Ehepaares
0087Wille, Mariafeld am Zürchersee, bildete in den Fünf-
0088ziger- und Sechziger-Jahren ein Asyl schönster Geselligkeit.
0089Außer Wagner, der nach seiner Flucht aus Dresden seinen
0090Aufenthalt in Zürich genommen hatte, verkehrten daselbst
0091Herwegh, Mommsen, Semper, Gottfried Keller, Moleschott.
0092Wagner gab sich dort ungezwungen und meist heiterer Laune.
0093Frau Wille, welche sein besonderes Vertrauen genoß, spricht
0094mit Liebe und Verehrung von ihm, ohne seine Schwächen
0095zu übersehen. Daß Wagner in Zürich schwere Leiden des Exils
0096gekannt, erklärt sie für eine Fabel: „Der Verbannte, den
0097Alle hochhielten, den Viele verehrten, lebte in der Sicherheit
0098des eigenen Herdes und hatte Freunde, die für ihn eintraten.
0099Einer war darunter (Wesendonk), der wol selten seines-
0100gleichen findet.“ Im Mai 1864 traf ihn die Berufung nach
0101München. Es ist ein bei Wagner nicht eben häufig vorkommender
0102Zug von Dankbarkeit, daß er auch während seiner Münchener
0103Glücksperiode mit Frau Wille eine zeitlang im Briefwechsel blieb.
0104Gar schwärmerisch schreibt er ihr über den jungen König:
0105„Von der Herrlichkeit dieses Verhältnisses haben Sie keinen
0106vollen Begriff!“ Aber ein starkes Selbstgefühl färbt durch-
0107wegs diese Hingebung. „Welcher Energie bedürfte ich, um
0108meinen jungen Freund für immer seiner Umgebung zu
0109entreißen!“ Wagner erinnert sich lebhaft eines Traumes in
0110seinen Jünglingsjahren, daß er Shakespeare leibhaftig
0111sehe und spreche und nur noch die Sehnsucht empfinde,
0112Beethoven zu sehen. „Etwas Aehnliches muß in diesem
0113lieblichen Menschen (dem König) vorgehen, wenn er
0114mich hat
!“


0115Von hohem Interesse, doch ganz verschiedenen Cha-
0116rakters sind „Zwölf Briefe R. Wagner’s an August
0117Röckel“. Wir danken ihre Veröffentlichung der fleißigen
0118Schatzgräberin La Mara, welche in einem Vorwort uns
0119über die Persönlichkeit und merkwürdigen Schicksale Röckel’s
0120unterrichtet. Die Briefe stammen aus der ersten Zeit von [2]
0121Wagner’s Schweizer Exil und zeigen sein ganzes Wesen in
0122exaltirter Verbitterung. Er hat sich tief in pessimistische
0123Schriften hineingelesen und sendet seinem unglücklichen
0124Freunde Röckel in dessen Festungshaft lange redselige Vor-
0125träge über Feuerbach’sche und Schopenhauer’sche Philosophie.


0126Ein sehr umfangreiches Werk, Glasenapp’s Wagner-
0127Biographie, erscheint jetzt in dritter, gänzlich neu bearbeiteter
0128Auflage. Vorläufig ist der etwa 400 Seiten starke erste
0129Band heraus; er umfaßt die Jahre 1813 bis 1843, reicht
0130also von der Geburt Wagner’s bis zu seiner Berufung an
0131die Dresdener Hofoper. „Der höchste Lohn,“ heißt es im
0132Vorwort, „bestand für den Verfasser darin, daß der
0133Meister selbst
die Leistung einer freundlichen und er-
0134muthigenden Beachtung für werth hielt.“ Das glauben wir
0135gern, denn Herrn Glasenapp’s Buch ist eine schrankenlose
0136Vergötterung Wagner’s, des Menschen wie des Künstlers.
0137Die Biographie beginnt mit einer höchst weitschweifigen Ge-
0138schichte von Wagner’s Vorfahren. Auf Seite 18 ist der Ver-
0139fasser endlich bei dem Vater Wagner’s angelangt und sieht
0140hier „den Durchbruch aus der erdrückenden Masse des
0141Stofflichen unserer modernen Bildung in das freie Reich
0142der künstlerischen Gestaltung in dem überragenden Künstler-
0143geist Richard Wagner’s mit dem Staunen tiefster Ergriffen-
0144heit sich vollziehen“. Das „Staunen tiefster Ergriffenheit“
0145gehört bekanntlich zu Wagner’s stylistischem Hausgebrauch und
0146ist so wie die „allerdeutlichste Bestimmtheit“ und Aehnliches
0147bereits von allen Wagnerianern bis zum Ueberdruß abgenützt.
0148Aber auch den athembeklemmenden Periodenbau hat Glasenapp 
0149dem „Meister“ abgeguckt. Nachdem er uns die acht älteren
0150Geschwister Richard Wagner’s aufgezählt, fährt er fort:
0151„Halten wir bei solcher Vergegenwärtigung des Wagner’schen
0152Familienbestandes den Gesichtspunkt der darin sich kund-
0153gebenden Bedingungen für die Erzeugung des Genius 
0154aus seiner Mitte im Auge, so springt uns daraus in recht
0155auffälliger Weise eine überaus sprechende Thatsache entgegen:
0156das Inslebentreten der außerordentlichen Erscheinung stellt
0157sich uns recht greifbar als das Endergebniß einer ganzen
0158Reihe vorausgegangener Geburten dar, in deren stetiger
0159Folge die Natur, wie zum Zwecke ihrer Hervorbringung
0160durch das dazu erlesene Paar ihre Kräfte gleichsam geübt
0161oder auch gesammelt und aufgespart hat. Ja selbst das an-
0162fängliche Vorwiegen männlicher, dann aber fast aus-
0163schließlich weiblicher Geburten will uns im Hinblick
0164auf die so ausgesprochen männliche Natur des
0165Richard Wagner’schen Genius durchaus bedeutsam er-
0166scheinen.“ Durchaus bedeutsam erscheint Herrn Glasenapp 
0167an dem kleinen Richard allerlei, was jeder andere Junge
0168auch treibt: Hosenzerreißen, auf dem Treppengeländer hinab-
0169gleiten, einen verlaufenen Hund mit nach Hause nehmen,
0170in der Küche die Cotteletten anbeißen und dergleichen Genie-
0171blitze mehr. Für diese Erinnerungen aus Richard’s Kinder-
0172zeit findet Herr Glasenapp in seiner tiefsten Ergriffenheit
0173die sinnige Bezeichnung, es seien „Schmetterlinge mit ab-
0174gestreiftem Flügelstaub“! Auch geheimnißvolle chronologische
0175Beziehungen weiß er auf Schritt und Tritt aufzufinden, zum
0176Beispiel daß der Vater Richard Wagner’s mitten in der
0177sommerlichen Höhe des Beethoven-Jahres 1770 ge-
0178boren wurde, daß die erste Dresdener Aufführung von
0179Weigl’s „Schweizerfamilie“ am fünften Geburtstage
0180Richard Wagner’s stattfand, daß dieser seinen neunten Ge-
0181burtstag um die Zeit feierte, als C. M. Weber sich zur
0182Composition der „Euryanthe“ anschickte. Alles höchst be-
0183deutungsvoll!


0184Endlich ist der Verfasser mit den Knabenjahren fertig
0185und spricht die Hoffnung aus, „das Außerordentliche der Er-
0186scheinung des Genius bereits in seiner frühesten Entwick-
0187lung überzeugend vergegenwärtigt zu haben“. Von der Leip-
0188ziger Universitätszeit Wagner’s erfahren wir nicht viel mehr,
0189als daß er „von der Gelegenheit, sich durch philosophische
0190und ästhetische Collegien zu bilden“ wenig profitirte. Hin-
0191gegen „habe er bei Cantor Weinlig den Contrapunkt und
0192dessen schwierigste Aufgaben in weniger als einem halben
0193Jahre spielend erlernt.“ Demnach muß der alte Weinlig 
0194wirklich ein Wundermann gewesen sein. In Würzburg 1833 
0195componirt Wagner seine erste Oper „Die Feen“ und über-
0196reicht sie dem Leipziger Theater. Glasenapp donnert gegen
0197die „bornirte Schrullenhaftigkeit“ dieser Theater-Directon,
0198welche Auber’s neue Oper „Der Maskenball“ dem
0199Erstlingswerk des jungen Wagner vorzog. Dieser kommt
0200als Musikdirector nach Magdeburg, dann nach Königsberg,
0201wo er die schöne Schauspielerin Minna Planer heiratet. „Kein
0202Zweifel,“ sagt Glasenapp, „daß er wirkliche Liebe auch unter 
0203den schwierigsten Verhältnissen ihr bewahrt hat.“ Wer von
0204den einsamen letzten Jahren dieser armen Frau Kenntniß
0205hat, muß über so kühne Behauptung staunen. Einen breiten
0206Raum füllt nach Fug und Recht Wagner’s erster Aufenthalt
0207in Paris. Die Schriften von Laube, Heine, Fr. Pecht und
0208von Wagner selbst haben dafür das beste Material geboten.
0209Herrn Glasenapp ganz allein gehört jedoch der Eingang:
0210„Es gibt einen Vorgang, der sich mit Wagner’s dreijähriger
0211erster Pariser Periode vergleichen läßt: Luther’s Auf-
0212enthalt in Rom! Hier wie dort ward die Zerstörung des
0213guten Glaubens eines deutschen Idealisten zum Ausgangs-
0214punkt einer reformatorischen That.“ Für Herrn Glasenapp 
0215hat ein „Musikdrama“ dieselbe weltgeschichtliche Bedeutung
0216wie die Reformation und Wagner mindestens die gleiche
0217Charakterstärke wie Luther. Ein Unterschied, auf den Glasenapp 
0218vergißt, besteht nur darin, daß Wagner später doch wieder
0219nach dem musikalischen Babel pilgerte und den verachteten
0220Parisern seinen „Tannhäuser“ französisch vorführte, während
0221von Luther nicht bekannt ist, daß er nach seinem Bruch
0222mit dem Papstthum sich neuerlich nach Rom begeben
0223und dort Messe gelesen habe. In dem Capitel
0224Paris mußte für unseren Biographen der Name
0225Meyerbeer ein Stein des Anstoßes werden. Durch
0226materielle Unterstützung und zahlreiche Empfehlungen wurde
0227Meyerbeer in Paris bekanntlich Wagner’s Wohlthäter, was
0228dieser auch niemals leugnete. „Lassen Sie doch,“ schrieb er
0229an R. Schumann nach Leipzig, „Meyerbeer nicht mehr so
0230herunterreißen: dem Manne verdank’ ich Alles!
0231Meyerbeer’s allmächtiges Fürwort hat die erste Aufführung
0232des „Rienzi“ in Dresden bewirkt und dadurch mittelbar
0233Wagner’s Ernennung zum Hofcapellmeister; auch in Berlin 
0234war die erste Aufführung des „Rienzi“ Meyerbeer’s eigenstes
0235Werk. Das sind historische Thatsachen, ebenso wie die späteren
0236maßlosen Angriffe Wagner’s gegen Meyerbeer. Ein anstän-
0237diger Biograph durfte hier bei aller Vorliebe für Wagner 
0238der Wahrheit nicht ins Gesicht schlagen; er durfte nicht die
0239Undankbarkeit des Einen verherrlichen und das werkthätige
0240Wohlwollen des Anderen verhöhnen. Nicht Wagner’s späterer
0241Undank, im Gegentheil nur seine frühere Ergebenheit gegen
0242seinen Wohlthäter findet Herr Glasenapp einer Entschul-
0243digung bedürftig. „Der junge Künstler hatte ja noch Vieles [3]
0244an sich selbst zu erleben, bis er zu einem vorurtheilslosen und
0245unbestochenen Urtheil über den wahren Werth des großen Opern-
0246musikkönigs gelangte.“ Dieser war nur „ein kalter Speculant,
0247über dessen wahre Gesinnung Wagner schon aus dem
0248Grunde sich immer wieder täuschen mußte, weil er zu
0249ihrer richtigen Beurtheilung in seinem Innern auch nicht
0250den mindesten Maßstab fand“. Meyerbeer habe Wagner 
0251stets nur dahin empfohlen, „wo er eine Erfolglosig-
0252keit
seiner Empfehlung mit Bestimmtheit vor-
0253aussehen
konnte“! Genug. Eine solche Gemüthsroheit,
0254wie sie Glasenapp in diesem auf Haß und Lüge aufgebauten
0255Urtheil über Meyerbeer bekundet, ist uns selten begegnet.
0256Nicht nur der Historiker, auch der Mensch Glasenapp erregt
0257unsern Widerwillen. Ja, rufen seine Anhänger, mußte denn
0258Wagner die Musik Meyerbeer’s loben, weil er ihm persön-
0259lich Dank schuldete? Gewiß nicht. Wir lassen hier die Com-
0260positionen Meyerbeer’s, über die Wagner nach Belieben
0261denken mochte, völlig beiseite. Nichts nöthigte ihn, sie zu
0262loben, wie er anfangs (siehe Lippmannsohn’s Autographen-
0263Katalog) mit demüthiger Schmeichelei gethan; aber noch
0264weniger war er später gezwungen, Meyerbeer öffentlich zu
0265verunglimpfen, wie er es in seinem „Judenthum in
0266der Musik“ gethan. Natürlich erfreut Herr Glasenapp 
0267seinen Leserkreis auch reichlich mit den ausgesuchtesten
0268antisemitischen Delicatessen. Er rügt es, daß Wagner in
0269seinem Aufsatze „De la musique allemande“ Meyerbeer als
0270Deutschen behandelt hat. „Der physiologische und ethno-
0271logische Gegensatz zwischen deutschem und jüdischem 
0272Wesen war dem siebenundzwanzigjährigen Künstler eben noch
0273nicht in voller Klarheit aufgegangen.“ Heine wird mit
0274Gänsefüßchen ein „deutscher“ Dichter genannt, Mendels-
0275sohn-Bartholdy
„eine vollends undeutsche Erschei-
0276nung“, der berühmte Schauspieler Dessoir erscheint mit
0277eingeklammertem „Dessauer“ und dem angehängten Spott-
0278ruf: „Ex oriente lux!“


0279Genug von dieser widerwärtigen Parteischrift. Wenn
0280ich nicht irre, war es L. Ehlert, der die erste Auflage der-
0281selben mit dem Ausspruche abgefertigt hat, man lese auf der
0282ersten Seite, daß Herr Glasenapp kein Musiker, auf der
0283zweiten, daß er kein Biograph ist. Dieses Urtheil bleibt auch
0284für die neueste Umarbeitung aufrecht.